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Klassenspiel 2022 - eine erste Kritik

Die Geschichte zweier Liebender aus verfeindeten Elternhäusern ist ganz bestimmt älter als Shakespeare´s Renaissance-Drama, das zwischen 1591 und 1595 entsteht. Es ist jedoch das erste Mal, dass die Komik nicht losgelöst ist von der Tragödie, sondern einfach nur wie ein anderer Blick auf das Geschehen erscheint. Und so findet sich in einem frühen Werk des Autors eine bis dahin nicht gekannte Fülle von Ideen, Konzepten, Beobachtungen, Schwächen, Eitelkeiten oder Stärken der handelnden Personen, eingebettet in die wohl ewigen Konflikte von Liebe und Hass, Leben und Tod, Emotionalität und Zynismus, Tragik eben und Komik.
Dabei hat sich das Stück über die Jahrhunderte immer wieder verändert. Eine erste deutsche Aufführung gab es schon 1604 in Nördlingen. Leider verloren gegangen ist eine Fassung von James Howard aus den 1660er Jahren, in der alles gut endet, die beiden Liebenden überleben. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde stark zensiert, alles, was nicht nach reiner Liebe klang, durfte auf den Bühnen in England oder Deutschland kaum gesagt, geschweige denn gespielt werden. Ja, und dann im 20. Jahrhundert kamen die bewegten Bilder dazu: ganz klassisch im großartigen Zeffirelli-Film von 1968 oder recht abenteuerlich im 1996er Hollywoodstil mit Leonardo DiCaprio.
Vor kurzem las ich den Aufsatz eines Literaturwissenschaftlers, der begründete, dass es die Zeit nicht gut meine mit den Werken Shakespeares, da vor allem junge Menschen kaum einen Zugang zu seiner Sprache fänden und sich das in absehbarer Zeit wohl auch nicht ändern würde. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich diesen Argumenten folgen wollte. Seit gestern Abend weiß ich, warum. Es stimmt einfach nicht!
Ihre Aufführung, liebe 12. Klasse, hat mir von der ersten bis zur letzten Minute außerordentlich gut gefallen und ich danke Ihnen für diesen schönen Abend.
Ich war sehr neugierig, wie Sie sich dem Original Shakespeares nähern wollten. Welche Ideen würden Sie entwickeln, um es zu Ihrem Stück zu machen? Wo würden Sie Schwerpunkte setzen, was würden Sie kürzen? Dazu sollte ich vielleicht auch zugeben, wenn es um klassische Dramen geht, kann ich sehr konservativ werden. Bloß nicht zu viel Neues! Auch das muss ich wohl überdenken.
Lassen Sie mich einmal sortieren, was mich beeindruckt hat: Was Sie für sich neu interpretierten, in der Musik, im Umgang der Personen miteinander, im Spiel mit dem Publikum, im Tanz, im Drogenrausch, in der Messerstecherei, im skateboardenden Benvolio (Jannes Glowka), im dealenden Apotheker (Nico Ulbricht) oder dem großartig psychedelischen Pater Lorenzo (Frieda Dochow) – nichts davon war mir zuviel! Denn die feine Klammer, die alles zusammenhielt, war die Sprache des Originaltextes von Shakespeare. Jedes gute Drama braucht eine gute Sprache. Ihres hatte sie. Wenn die Amme (sehr überzeugend gespielt von Anna Gerwin) ihre deftigen Ehe- und Lebensweisheiten von sich gibt und auf die sehr frivolen, ja obszönen Erwiderungen Mercutios (toll besetzt mit Mathilda Höll) trifft, wenn der Hausherr Capulet (Mika Janowitz, immer stilsicher im weißen Fellmantel) über all das räsoniert, was ihm sein feines Leben so erschwert oder Graf Paris (mit feinster Ironie von Jannes Kroß gedeutet) vor Selbstverliebtheit kaum still stehen kann, lachen seit Jahrhunderten die Zuschauerinnen und Zuschauer. Aber seit ebenso langer Zeit gibt es das Seufzen des Publikums, wenn die lyrisch weiche, sehnsuchtsvolle Sprache der Liebenden erklingt, mal laut, mal leise, flehend, fordernd, glücklich oder verzweifelt (ein Kompliment an Malina Stöckel als Julia und Emily Miesler als Romeo). Und so nimmt man es auch dem Diener (Stephan Hannusch mit sichtlich Spaß an seinem Part) nicht übel, wenn er behauptet, keine oder keiner könne wohl lesen und hilft der Amme gern auf die Bühne und wieder herunter, wie es sich bei einer feinen Dame gehört. Die Plätze in der ersten Reihe im Theater sind nicht immer die sichersten.
Apropos, das Theater: unser neuer Saal. Wie Sie den genutzt haben: rechts, links, vorn, hinten, auf der Bühne, hinter der Bühne, natürlich mit Balkon eine Treppe höher samt Kerzenlicht aus dem Nachtgemach Julias oder sogar durch die Zuschauer hindurch – manchmal wusste man nicht, wo man zuerst hinschauen sollte. „Wer hastig läuft, der fällt: drum eile mit Weil´!“, sagt Lorenzo im 3. Aufzug des 2. Aktes. Hier hätte es gern etwas weniger sein dürfen. Die besten Momente des Stücks entstanden immer dann, wenn der Rhythmus der Sprache mit dem Tempo des Gespielten übereinstimmte.
Dazu bedurfte es der Spielfreude des gesamten Ensembles, des Prinzen von Verona (Zora Nikolaus, klasse Effekt mit dem Lautsprecher), der Gräfin und des Grafen Montague (Celestine Schütze, Ben Luca Grafe), der Gräfin Capulet (Salome Lay), des einen Anführers der Montague „Gang“ Tybalt (überzeugend dargestellt von Amelie Baensch). Gut choreographiert erschienen zudem alle weiteren Bediensteten, Freunde und Angehörige der zwei Häuser: Balthasar (Marie Buchenau), Aaron (Johann Schindel), Caspar (Eddie Mann), Simson (Liselotte Schmidt), Gregorio (Emilia Wirths) und Abraham (Samuel Gürlach). Was aber auch mit besonderer Anerkennung zu versehen ist, ist die Regieleistung. Unter der Leitung von Frau Kroß und mit der Hilfe von Frau Durdis ist es Ihnen gelungen, die Vielzahl der Ideen mit einem angenehm zurückhaltenden Bühnenbild und passend eingespielten Videosequenzen zu verbinden. Die Kombination aus handgemachter Live-Musik, Live-Gesang und vorproduzierten Technoklängen war äußerst angenehm. Ganz bestimmt war nicht jede Probe einfach oder jede Regieentscheidung undiskutiert. Dass der Abend ein rundes Bild ergab und Sie, wie schon die Schauspieler (damals waren es wirklich nur Männer) vor 425 Jahren, mit großem Applaus bedacht wurden, verdanken Sie auch Ihren Regisseurinnen.
Ich wünsche Ihnen weitere erfolgreiche Aufführungen, gern vor ausverkauftem Haus. Verdient wäre es allemal.
12. Mai 2022
S. Pohle

 

 

 

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